Auf den Spuren Goethes - von Innsbruck über den Brenner zum Gardasee

 
Es war nicht früh um drei Uhr, auch nicht im September 1786, sondern Pfingsten 2004. Und ich stahl mich nicht aus Bonn, sondern verabschiedete mich irgendwann zwischen sechs und sieben von den Liebsten, sofern sie sich nicht sowieso - wie die beiden Söhne Tim und Jan, dazu Habib, ein Freund von Tim  -  mit mir auf den Weg machten. Wir fuhren nicht mit einer Postchaise, sondern mit einem unter den Lasten ächzenden Opel-Astra - im Gepäck etwas mehr als Mantelsack und Dachsranzen: unsere vier Räder und eine Campingausrüstung. Das Ziel war Innsbruck. Von dort wollten wir über den Brenner (1374 m) zum Gardasee fahren. Ob die obern Wolken an diesem Morgen streifig und wollig, die untern schwer waren, weiß ich nicht mehr.
 
 
 
 
 
 

Innsbruck liegt herrlich in einem breiten, reichen Tale zwischen hohen Felsen und Gebirgen. Erst wollte ich dableiben, aber es ließ mir keine Ruhe. Kurze Zeit ergetzte ich mich an dem Sohne des Wirts, einem leibhaftigen Söller. So begegnen mir nach und nach meine Menschen. Das Fest Mariä Geburt zu feiern, ist alles geputzt. Gesund und wohlhäbig, zu Scharen, wallfahrten sie nach Wilten, einem Andachtsorte, eine Viertelstunde von der Stadt gegen das Gebirge zu. Um zwei Uhr, als mein rollender Wagen das muntere bunte Gedränge teilte, war alles in frohem Zug und Gang... 

 

Von Innsbruck herauf wird es immer schöner, da hilft kein Beschreiben. Auf den gebahntesten Wegen steigt man eine Schlucht herauf, die das Wasser nach dem Inn zu sendet, eine Schlucht, die den Augen unzählige Abwechselungen bietet. Wenn der Weg nah am schroffsten Felsen hergeht, ja in ihn hineingehauen ist, so erblickt man die Seite gegenüber sanft abhängig, so dass noch kann der schönste Feldbau darauf geübt werden. Es liegen Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütten, alles weiß angestrichen, zwischen Feldern und Hecken auf der abhängenden hohen und breiten Fläche. Bald verändert sich das Ganze; das Benutzbare wird zur Wiese, bis sich auch das in einen steilen Abhang verliert...

 
Am Neunten abends, ... , wollte ich noch die Herberge, das Posthaus auf dem Brenner, in seiner Lage zeichnen, aber es gelang nicht, ich verfehlte den Charakter und ging halb verdrießlich nach Hause. Der Wirt fragte mich, ob ich nicht fort wollte, es sei Mondenschein und der beste Weg, und ob ich wohl wußte, daß er die Pferde morgen früh zum Einfahren des Grummets brauchte und bis dahin gern wieder zu Hause hätte, sein Rat also eigennützig war, so nahm ich ihn doch, weil er mit meinem innern Triebe übereinstimmte, als gut an. Die Sonne ließ sich wieder blicken, die Luft war leidlich; ich packte ein, und um sieben Uhr fuhr ich weg. Die Atmosphäre ward über die Wolken Herr und der Abend gar schön.
 
 
 
 
 
 
 
 

Als ich um neun Uhr nach Sterzing gelangte, gab man mir zu verstehen, dass man mich gleich wieder wegwünsche. In Mittenwald Punkt zwölf Uhr fand ich alles in tiefem Schlafe, außer dem Postillon, und so ging es weiter auf Brixen, wo man mich wieder gleichsam entführte, so daß ich mit dem Tage in Kollmann ankam. Die Postillons fuhren, dass einem Sehen und Hören verging, und so leid es mir tat, diese herrlichen Gegenden mit der entsetzlichsten Schnelle und bei Nacht wie im Fluge zu durchreisen, so freuete es mich doch innerlich, daß ein günstiger Wind hinter mir herblies und mich meinen Wünschen zujagte...

 
Heute abend hätte ich können in Verona sein, aber es lag mir noch eine herrliche Naturwirkung an der Seite, ein köstliches Schauspiel, der Gardasee, den wollte ich nicht versäumen, und bin herrlich für meinen Umweg belohnt. (...) Hier zeigten sich die schönsten Kalkfelsen zu malerischen Studien. Wenn man hinabkommt, liegt ein Örtchen am nördlichen Ende des Sees und ist ein kleiner Hafen oder vielmehr Anfahrt daselbst, es heißt Torbole. (...)  Man übersieht den See beinah in seiner ganzen Länge, nur am Ende links entwendet er sich unsern Augen. Das Ufer, auf beiden Seiten von Hügeln und Bergen eingefaßt, glänzt von unzähligen kleinen Ortschaften...
 

Nach Mitternacht bläst der Wind von Norden nach Süden, wer also den See hinab will, muß zu dieser Zeit fahren; denn schon einige Stunden vor Sonnenaufgang wendet sich der Luftstrom und zieht nordwärts. Jetzo nachmittag wehet er stark gegen mich und kühlt die heiße Sonne gar lieblich. Zugleich lehrt mich Volkmann, daß dieser See ehemals Benacus geheißen, und bringt einen Vers des Virgil, worin dessen gedacht wird: Fluctibus et fremitu resonans Benace marino (Vom Fluten und Brausen hallst du wider, Gardasee).

Der erste lateinische Vers, dessen Inhalt lebendig vor mir steht, und der in dem Augenblicke, da der Wind immer stärker wächst und der See höhere Wellen gegen die Anfahrt wirft, noch heute so wahr ist als vor vielen Jahrhunderten. So manches hat sich verändert, noch aber stürmt der Wind in dem See, dessen Anblick eine Zeile Virgils noch immer veredelt...

 

Der Gegenwind, der mich gestern in den Hafen von Malcesine trieb, bereitete mir ein gefährliches Abenteuer, welches ich mit gutem Humor überstand und in der Erinnerung lustig finde. Wie ich mir vorgenommen hatte, ging ich morgens beizeiten in das alte Schloß, welches ohne Tor, ohne Verwahrung und Bewachung jedermann zugänglich ist. Im Schloßhofe setzte ich mich dem alten auf und in den Felsen gebauten Turm gegenüber; hier hatte ich zum Zeichnen ein sehr bequemes Plätzchen gefunden; neben einer drei, vier Stufen erhöhten verschlossenen Tür, im Türgewände ein verziertes steinernes Sitzchen, wie wir sie wohl bei uns in alten Gebäuden auch noch antreffen....

Ich saß nicht lange, so kamen verschiedene Menschen in den Hof herein, betrachteten mich und gingen hin und wider. Die Menge vermehrte sich, blieb endlich stehen, so daß sie mich zuletzt umgab. Ich bemerkte wohl, daß mein Zeichnen Aufsehen erregt hatte, ich ließ mich aber nicht stören und fuhr ganz gelassen fort. Endlich drängte sich ein Mann zu mir, nicht von dem besten Ansehen, und fragte, was ich da mache. Ich erwiderte ihm, daß ich den alten Turm abzeichne, um mir ein Andenken von Malcesine zu erhalten. Er sagte darauf, es sei dies nicht erlaubt, und ich sollte es unterlassen. Da er dieses in gemeiner venezianischer Sprache sagte, so daß ich ihn wirklich kaum verstand, so erwiderte ich ihm, daß ich ihn nicht verstehe. Er ergriff darauf mit wahrer italienischer Gelassenheit mein Blatt, zerriß es, ließ es aber auf der Pappe liegen. 
 

Hierauf konnt' ich einen Ton der Unzufriedenheit unter den Umstehenden bemerken, besonders sagte eine ältliche Frau, es sei nicht recht, man solle den Podestà rufen, welcher dergleichen Dinge zu beurteilen wisse.  ... als der Podestà mit seinem Aktuarius herankam, ich ihn freimütig begrüßte und auf seine Frage, warum ich ihre Festung abzeichnete, ihm bescheiden erwiderte, daß ich dieses Gemäuer nicht für eine Festung anerkenne. Ich machte ihn und das Volk aufmerksam auf den Verfall dieser Türme und dieser Mauern, auf den Mangel von Toren, kurz auf die Wehrlosigkeit des ganzen Zustandes und versicherte, ich habe hier nichts als eine Ruine zu sehen und zu zeichnen gedacht.... 

"Von hier aus skizzierte J. W. Goethe 
i(m) Sept(tember) 1786 die Burg"
 
Kursive Zitate und Auszüge aus: 
Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise
 
Die Route über den "alten" Brennerpass
Nach Italien! Wunderbar! Mit dem Rad! Noch besser! Warum aber über den Brenner? Da ist doch nichts als Autobahn!

Wer als Radfahrer eine Überquerung der Alpen plant, wird feststellen, dass die empfohlenen und ausgeschilderten Radwege um den Brenner einen weiten Bogen machen. In Wien ist offensichtlich bisher noch niemand auf die Idee gekommen, Goethe zu vermarkten oder es erscheint den Leuten im österreichischen  Verkehrsministerium ein solches Unterfangen von vornherein aussichtslos. Vielleicht liegt es ja daran, dass Goethe keine allzu große Lust hatte, lange in Österreich zu verweilen...

Die Kritiker der Brennerroute haben in vielerlei Hinsicht Recht und auch für Sohn Tim, der diese Strecke mit unserer vorjährigen in der Schweiz über den San Bernardino verglich, ist das Urteil klar: die Schweizer Strecke über die Alpen ist "tausendmal schöner" (und schwerer und steiler...)! Der Blick auf die landschaftlichen Schönheiten wird an vielen Stellen von der Autobahn verstellt. Herausforderungen für den Radfahrer ( lange, schwere Steigungen) gibt es nicht - stattdessen geht es 30 Kilometer mehr oder weniger kontinuierlich bergauf. Nur auf kurzen Stücken wird es steiler. Dazu kommt, dass an einem solchen Wochenende wie dem Pfingstenwochenende, an dem wir auf dem Brenner waren, Radfahrer von schier endlosen Kolonnen von Motorradfahrern geplagt werden. Warum die lieber über die alte Brennerstraße brettern, als über die Autobahn, ist mir ein Rätsel. An den paar Euro, die die Maut auf der Autobahn beträgt, kann es nicht liegen und von der Landschaft zwischen Innsbruck und Sterzing kriegen sie auf ihren donnernden Kisten ganz bestimmt nichts mit.

Trotz der beschriebenen Widrigkeiten hat mir es gefallen, nach den Spuren einer Reise über die Alpen zu suchen, die vor mehr als 200 Jahren stattgefunden hat und Goethes Eindrücke mit meinen eigenen zu vergleichen. Ich sehe es nicht ein, eine solche Route motorisierten Plagegeistern zu überlassen, die die Strecke als Rennstrecke über die Alpen nutzen.  Zumindest auf italienischer Seite ist ein Brenner-Radweg geplant - im Eisack-Tal auch im Bau. Warum sollten nicht auch die  Österreicher auf die Idee kommen, für Radfahrer zwischen Innsbruck und Südtirol etwas zu tun, indem sie den Radweg auf ihrer Seite weiter bauen und die alte Brennerstraße für Motorradfahrer sperren?


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