Über Konfessionalismus

Seit ein paar Jahren spielt in englischsprachigen Analysen der Entwicklung im islamischen und besonders im arabischen Raum der Begriff des Konfessionalismus eine wichtige Rolle. Spätestens seit dem Erstarken des Islamischen Staates (IS) taucht die Kategorie auch in deutschsprachigen Veröffentlichungen auf.

Konfessionalismus ist in Deutschland 2015 als Kategorie allerdings längst noch kein Allgemeingut. Das zeigt ein Blick in das Onlinelexikon Wikipedia. Gibt der Nutzer des Onlinelexikons den Begriff ein, erhält er den Hinweis, dass er weitergeleitet wird auf die Seite „Konfessionalisierung“: „Konfessionalisierung“, heißt es dort einleitend, „bezeichnet die geschichtswissenschaftliche Theorie über die ineinandergreifende Entwicklung von Kirche, Staat und Gesellschaft nach der Reformation.“ Eine Seite zum Thema Konfessionalismus existiert gar nicht. Ganz anders die englischsprachige Wikipedia. „Confessionalism (Arabic: Muhassasah taifiyya)“, heißt es dort, „is a system of government that refers to de jure mix of religion and politics.“ (übersetzt: „Konfessionalismus ist ein Regierungssystem, in dem de jure eine Mischung aus Religion und Politik besteht.")

In englischsprachigen Aufsätzen über Entwicklungen in islamischen Staaten wird neben der Kategorie des Konfessionalimus häufig mit der Kategorie des „Sectarianism“ gearbeitet, wobei Confessionalism und Sectarianism oft identisch gesetzt werden oder doch sehr ähnliche Entwicklungen beschreiben sollen. In der englischsprachigen Wikipedia umfasst Sectarianism allerdings ein umfassenderes Phänomen als Confessionalism. „Sectarianismus,“ so die Übersetzung – wie für den Konfessionalismus gibt es auch für Sectarianism keine Seite auf der deutschsprachigen Wikipedia und auch in deutschsprachigen Arbeiten, wenn die Kategorie überhaupt Verwendung findet, wird der englische Begriff verwendet –, also: „Sectarianismus, wie Rassismus, ist eine Form von Fanatismus, Diskriminierung, Hass, die Wert legt auf Unterschiede innerhalb einer (gesellschaftlichen) Gruppe, wie zum Beispiel zwischen verschiedenen Konfessionen einer Religion, Nationen, Klassen, regionalen oder politischen Fraktionen einer Bewegung.“

Mit dem Thema Konfessionalismus befasste ich mich das erste Mal 1975 in einem Beitrag für eine Zeitschrift, in dem es um das politische System im Libanon geht. Zur Beschreibung der damaligen Verhältnis in diesem arabischen Land war dieser Begriff zu diesem Zeitpunkt gebräuchlich. Was sich dahinter verbirgt, fasst Abdel Mottaleb El Husseini so zusammen:
 

Hinsichtlich seiner vielfältigen religiösen und konfessionellen Struktur unterscheidet sich der Libanon im Großen und Ganzen nicht wesentlich von den benachbarten arabischen Ländern. Seine Besonderheit besteht jedoch darin, dass zum einen 18 christliche und islamische Konfessionen wie ein Mosaik auf einer sehr kleinen Fläche von 10 452 km 2 zusammenleben. Zum anderen nehmen die Religionsgemeinschaften als solche im libanesischen Staat eine politische und gesellschaftliche Rolle ein. Nach Artikel 24 der libanesischen Verfassung werden die 128 Sitze im libanesischen Parlament gleichermaßen zwischen christlichen und muslimischen Konfessionen nach einem Proporzsystem aufgeteilt. Die höchsten Staatsämter gehören jedoch den Vertretern der größten Religionsgemeinschaften. Der Staatspräsident muss Maronit (Christ), der Parlamentspräsident Schiit und der Regierungschef Sunnit sein. Dieses System wird deshalb auf Arabisch Al Taifia genannt - zu Deutsch Konfessionalismus: Die Macht geht nicht etwa vom Volk aus, sondern von den Konfessionen, die ein Bindeglied zwischen ihren Angehörigen und dem Staat bilden. Dazu kommt die Tatsache, dass die Religionsgemeinschaften auch im ganzen Staatsapparat vertreten sind. Eine Trennung von Religion und Politik existiert folglich im Libanon nicht. Laizistische Parteien oder Personen können nicht als solche an den Parlamentswahlen oder an der Regierung teilnehmen. Es gibt im Libanon kein einheitliches Familien- und Erbrecht. Insbesondere existiert keine Zivilehe, was ein Hindernis für gemischtkonfessionelle Ehen darstellt. Jede Konfession hat ihre eigenen Gesetze und Regelungen und unterhält zum Teil Bildungsinstitutionen und soziale Einrichtungen. All diese Faktoren tragen dazu bei, die Religionsgemeinschaften zu Staaten im Staat zu machen.
 
Als ich in den neunzehnhundertsiebziger Jahren den Beitrag über den Konfessionalismus verfasste, galt der als libanesisches Phänomen. In anderen arabischen Staaten herrschten nationalistische Parteien. So in Syrien, Irak und Ägypten, um die wichtigsten zu nennen. In diesen Ländern gab es die meisten der im Libanon vertretenen Konfessionen ebenso. Doch das politische System war seit dem Ende des Kolonialismus in diesen Ländern – oft nach einem kurzen feudal-monarchistischen Zwischenspiel – geprägt von den Personen und den Parteien, deren Ziel die Schaffung einer arabischen Nation war. Der Einfluss konfessioneller Gruppen war in den jeweiligen Ländern unterschiedlich – im Irak beispielsweise war der Einfluss der sunnitischen Stämme während der Herrschaft des Baath-Regimes verhältnismäßig groß, der Einfluss der schiitisch geprägten Mehrheit der Bevölkerung gering. Doch anders als im Libanon nahmen alle zentralen Positionen im Staat Mitglieder der nationalistischen Baath-Partei ein. Andere politische – nicht konfessionelle – Strömungen wie z.B. die Kommunisten durften zeitweilig eine untergeordnete Rolle spielen, bevor die nächste Verfolgungswelle dann wieder über sie hereinbrach.

Nicht Konfessionen, sondern nationalistische Parteien beherrschten in diesen Ländern über Jahrzehnte das gesellschaftliche und politische System. In den arabischen Staaten, in denen die nationalistischen Parteien keine Macht hatten, herrschten reaktionäre-klerikale Monarchen, so in Saudi-Arabien und Jordanien. Anders als im Libanon existierte in diesen Ländern allerdings kein System, in dem verschiedene religiöse Gruppen sich auf eine Machtverteilung vertraglich geeinigt hatten. Verschiedene religiöse Strömungen gab und gibt es durchaus auch in Saudi-Arabien. Doch die saudi-arabischen Schiiten waren und sind bis heute völlig von der Teilhabe an der Regierung und der politischen Macht ausgeschlossen. Das Land wird seit den neunzehnhundertdreißiger Jahren von der Dynastie der Sauds beherrscht. Sie sorgte dafür, dass in Saudi-Arabien die Lehre Ibn Abd al-Wahhabs – der Wahhabismus - Staatsdoktrin ist, und fördert wahhabitische und andere dogmatische sunnitische Strömungen in allen Teilen der Welt.

Spätestens nach dem Sturz Saddam Husseins und dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges ist von den nationalistischen Regimes nichts oder fast nichts mehr übrig geblieben. Nationale Bestrebungen sind höchstens noch bei den Palästinensern und den Kurden festzustellen. Seit Jahren und verstärkt seit dem Auftreten des IS wird die Szene im islamischen Raum von konfessionalistischen Regierungen und Gruppierungen dominiert. Gruppierungen, die allerdings nicht wie im Libanon an einer Verteilung der Macht untereinander interessiert sind, sondern, wie in Saudi-Arabien und Iran, an der Durchsetzung einer konfessionell orientierten Herrschaft.

Die Proklamation eines auf der Scharia basierenden Staates gegen und auf Kosten aller anderer gesellschaftlicher und konfessioneller Strömungen, wie es der IS tut, ist aktueller Ausdruck dieser Entwicklung. Nicht mehr für die Nation ziehen die jungen arabischen Männer in den Krieg und schlachten alle „Andersgläubigen“ ab - auch dann, wenn sie Moslems sind -, sondern für den wahren Glauben. Die Konfession ist die Heilsbotschaft im Kampf um den Erhalt oder die Erringung politischer Macht - und führt die islamische Welt in einen konfessionalistischen Sumpf, in dem Millionen Menschen ihre Heimat oder sogar ihr Leben verlieren.

© Hans Weingartz (9.7.2015)

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